Cornelia Voss:
Kafkas "stehender Sturmlauf" im Spannungsfeld
zur Wunschvorstellung der Transgression
Abstract: Der Vorschlag,
auf welche Weise sich den Erzählungen Kafkas zu nähern sei,
lautet hier, den literarischen Text als Kunstwerk anzusehen, das eine
"Übersetzung” einer subjektiv empfundenen Wirklichkeit
bedeutet. Grundannahme ist, daß textuell verschiedene, konträre
Weltbilder versinnbildlichende Räume aufgerufen werden, die über
bestimmte topologische, mit semantischen Gegensätzen korrelierende
Oppositionen verfügen. Vor diesem Hintergrund wird das räumliche
Modell zum organisierenden Element der Erzählung.
Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang
der Grenze als wichtigstem topologischen Merkmal des literarischen Textes
zu. Sie bricht einen Gesamtraum in zwei disjunkte Teilräume, die
zueinander in binärer Opposition stehen. Diese Teilräume können
Innen- und Außenraum sein, wobei "innen” von negativen Inhalten
wie Enge, Dunkelheit oder Angst charakterisiert sein kann und "außen”
mit Eigenschaften der Weite, Helle oder Freiheit positiv besetzt ist.
Diese einen Raum durchtrennende Grenze ist gewöhnlich nicht überschreitbar.
Widersetzt sich ihr dennoch eine Figur, liegt eine Grenzüberschreitung
vor. Die Person wird dadurch zu einem Handlungsträger und Helden.
Eine Transgression dieser Art bedeutet ein Ereignis, weil durch die
sich ereignende Aktion ein bestehendes Gefüge in Unordnung gerät.
Diese Theorie stellt die Hintergrundfolie bei dem Versuch einer Interpretation
von Erzählungen Kafkas dar.
Der zweite Ausgangspunkt einer diskursiven Betrachtung basiert auf Kafkas
Tagebucheintragung des "stehenden Sturmlaufes” (20.11.1911), dessen
Bedeutung als "stehendes Marschieren” später (23.01.1922) wiederaufgenommen
wird. Diese Begriffspaare sind Oxymora: Sie setzen zwei sich gegenseitig
ausschließende Begriffsinhalte auf engstem Raum zu einer Einheit.
Diese "stehenden Bewegungen” werden als Strukturmerkmal der Erzählungen
Kafkas angesehen. Ihnen kommt eine zentrale und symptomatische Bedeutung
für den Aktionsradius des jeweiligen Protagonisten eines literarischen
Textes zu. Die Struktur dieser Oxymora ist die der einer Endlosschleife
gleichenden dilemmatischen Bewegung ohne Ursprung und ohne erreichbares
Ziel.
Die Betrachtung ausgewählter Paradigmentexte soll zeigen, daß
die anfängliche zielstrebige Vorwärtsbewegung des Sturmlaufes,
das zielorientierte Vorgehen des Protagonisten und eine damit einhergehende
forsche Dynamik des Erzählens auf der syntagmatischen Achse rückläufig
zu werden beginnt, um schließlich in ein totales Verharren und
in Stagnation umzukippen, ohne daß eine erstrebte Veränderung
der Ausgangssituation erreicht wäre. Der Protagonist einer jeden
Erzählung fristet eine labyrinthische Existenz, in der es weder
Vergangenheit noch Zukunft gibt, sondern nur das quälende Jetzt.
Eine Entgrenzung bei Kafka scheint unmöglich. Es finden in dem
überwiegenden Teil seiner Erzählungen keine Ereignisse statt,
weil eine bestehende Ordnung unberührt bleibt.
Die Unmöglichkeit einer Befreiung aus dem "stehenden
Sturmlauf” des jeweiligen Protagonisten soll anhand der Erzählungen
"Eine kaiserliche Botschaft”, "Vor dem Gesetz”, "Der Aufbruch”, "Gibs
auf!”, "Der Kreisel” und "Die Verwandlung” nachgewiesen werden. Es wird
vorausgesetzt, daß der "stehende Sturmlauf” jenem negativ semantisierten
Teilraum angehört und der Protagonist in den ihm Erlösung
und Glück bedeutenden angrenzenden Raum gelangen möchte. Dieses
Ziel kann nur mittels der Durchbrechung des "stehenden Sturmlaufes”
erfolgen: Eine Grenzüberschreitung hätte eine befreiende Wirkung
und führte bereits auf lexikalischer Ebene zu einer Beruhigung
durch die Aufhebung der in sich widersprüchlichen, polaren Begriffe
"stehender Sturmlauf”.
Es gibt einige wenige Erzählungen, in denen eben diese Bewegung
durchbrochen wird - in ihnen gelingt es dem Protagonisten, einen negativ
semantisierten Raum zu verlassen. Die dadurch entstehende Transgression
bringt jedoch dem Handelnden nicht Freiheit und Glück, sondern
Tod. Als Beispiel dient die Erzählung "Das Urteil”.
Eine kaiserliche Botschaft:
Der Kaiser liegt im Sterben und hinterläßt
"Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen”, geflüchtet
in die "fernste Ferne”, eine Botschaft. Diese wird einem Boten ins Ohr
geflüstert, der sie ob ihrer Wichtigkeit bestätigen muß.
Eine Menschenmenge, jene "Zuschauerschaft” des königlichen Todes,
wohnt diesem Vorgang bei, "auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen
stehen im Ring die Großen der Gesellschaft”; ihre Blicke erfassen,
wie der König "den Boten ab[..]fertigt”, weil "alle hindernden
Wände […] niedergebrochen” sind. Der Bote ist "ein kräftiger,
ein unermüdlicher Mann”, der "wie kein anderer” "leicht vorwärts
kommt” und sich mühelos "Bahn durch die Menge” verschafft. Beste
Ausgangsbedingungen - ein dynamischer, schneller Bote, die offenen Freitreppen
und niedergebrochenen Wände, die Eindeutigkeit der Botschaft, die
Kenntnis ihres Empfängers - schaffen eine hoffnungsvolle, Erfolg
versprechende Ausgangslage.
"Aber die Menge ist groß, ihre Wohnstätten nehmen kein Ende”:
Die erste adversative Konjunktion "aber” zeigt plötzlich unerwartete
Probleme auf: Die Menschenmenge, durch die sich der Bote den Weg bahnen
muß, wird zum Hindernis. Die Situation beginnt zu kippen. Im Konjunktiv
wird sodann der Notwendigkeit eines "freien Feldes” Ausdruck verliehen,
das das Gelingen des Auftrages ermöglichen könnte: "Öffnete
sich freies Feld, wie würde er [der Bote] fliegen und bald wohl
hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner
Tür”. Nur in der Wunschvorstellung, im Irrealis kann der Empfänger
Kenntnis von der Botschaft erlangen, nur in der Fiktion wird jene Tür
erreicht, deren Überschreitung dem Empfänger seinen "Traum”
erfüllen würde. Aber selbst im Traum wird nur eine Schwellensituation
erreicht, die Handlung ebbt mit dem "Schlagen” an der Tür und damit
einen Schritt vor der Grenzüberschreitung ab - nur die unmittelbar
bevorstehende Übermittlung, nicht aber der Inhalt der Botschaft
wird kundgetan. Der positiv semantisierte Traum ist infiziert von der
absoluten Unmöglichkeit der Grenzüberschreitung in der Realität,
die latent die Wunschvorstellung umgibt - selbst im Irrealis kann einer
wahren Transgression nicht Sprachgestalt verliehen werden.
Die nimmer endenden, vergeblichen Bemühungen des Boten zeigen seine
Sisyphusarbeit, "wie nutzlos […] er sich ab[müht]”: Er jagt durch
des Kaisers Reich und sieht sich schachtelartig ineinander verkeilten
Hindernissen gegenüber: "Gemächer des innersten Palastes”,
durch die er sich "zwängt” - gelänge ihm die Bewältigung
jener Instanzen, "nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte
er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen;
die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der
zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe;
und wieder ein Palast […]”. Die Erreichung eines Zwischenziels ist bedeutungslos,
weil das Endziel - "die Residenzstadt, […], jene Mitte der Welt, hochgeschüttet
voll ihres Bodensatzes” "niemals, niemals” von "niemand[em]” erreicht
werden kann. Die Raumdimensionen, die die Welt strukturieren, sind labyrinthisch
um jenes im Wortsinne "hohe Ziel” der Residenzstadt konstruiert, der
als "Mitte der Welt”, als deren Dreh- und Angelpunkt eine tragende Bedeutung
zukommt. Erreichte dieses Zentrum die Botschaft, so wäre alles
gewonnen. Jedoch windet sich der Bote um diese aufgetürmte, unnahbare
und uneinnehmbare Residenz unten an ihrem Fuße im "stehenden Sturmlauf”,
gefangen in den labyrinthischen Wegen der menschlichen Existenz: Selbst
wenn der Unermüdliche all jene Zwischenetappen, all jene unbedeutenden
Grenzüberschreitungen auf horizontaler Ebene durchmessen hätte,
wäre sein Scheitern angesichts der sich vor ihm auftürmenden
letzten Instanz unabdinglich - "niemand dringt hier durch”. Die unüberwindbare
Opposition "oben - unten” ist von umfassender Bedeutung.
Die dilemmatische Raumdimension zeichnet sowohl auf horizontaler als
auch auf vertikaler Ebene die tragische menschliche Situation nach.
Sie korrespondiert mit der unendlichen Zeitspanne: Das Durchmessen der
ungeheuren Räume spielt sich "durch Jahrtausende” hindurch ab.
Das irdische Labyrinth, die schlangenartigen Wege, die Abwegen gleichen,
da sie statt zum ersehnten Ziel ins Nichts führen, stehen zu der
himmlischen, allmächtigen Residenzstadt in einem unvereinbaren
Gegensatz, der für die Ewigkeit irreversibel festgeschrieben ist.
Diese mit menschlichen Mitteln nicht annähernd beherrschbaren Raum-
und Zeitdimensionen unterstreichen die Notwendigkeit des Scheiterns
jeglicher Handlungen als unabdingbaren Bestandteil des Lebensprogramms.
Vor dem Gesetz:
Einer ähnlichen labyrinthartigen Verschachtelung
von Grenzen und Hindernissen steht jener "Mann von Lande” gegenüber,
der Eintritt zum Gesetz begehrt. Türen verhindern die Realisierung
seines Vorhabens. Er trifft auf den Türhüter als erstes Hindernis
- seine Präsenz und seine Worte: "Wenn es dich so lockt, versuche
es [Eintritt zum Gesetz zu bekommen] doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn.
Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter.
Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger
als der andere”, lassen den Gesetzsuchenden im Angesicht seines Ziels
innehalten. Das Anliegen des Mannes ist prinzipiell erfüllbar,
"jetzt aber nicht” durchsetzbar, wie der Türhüter ihm mitteilt.
Der Gesetzsuchende wartet, bis zu seinem Tod in dieser Situation verharrend.
Die mit steigender Türzahl proportional wachsende Macht, die die
jeweiligen Türhüter nach Aussage des ersten Wächters
haben, bringt den Mann vom Lande dazu, sein gesamtes Leben vor der ersten
Tür zu fristen. Sein Ziel steht ihm klar vor Augen, doch gelingt
es ihm nicht, jene Schwelle, die ihm Recht, Kenntnis und gesellschaftliche
Integration ermöglichte, zu überschreiten. Seine Bewegung
ebbt zum Stillstand vor der Tür ab, obgleich sein gesamter Identitätsentwurf
auf eben diese Grenzüberschreitung zugeschnitten ist.
Der Aufbruch:
Am Anfang dieser kurzen Erzählung steht der
Protagonist, der seinem Diener "befahl [s]ein Pferd aus dem Stall zu
holen”. Der Untergebene versteht ihn nicht, so daß der Befehlende
selbst in den Stall geht, das Pferd sattelt und besteigt - der Ausritt
kann beginnen.
Der Reiter ist zunächst aktiv und zupackend. Er reitet los, wird
jedoch von seinem Diener "beim Tore” mit der Frage aufgehalten: "Wohin
reitest du, Herr?”. Die Antwort auf diese Frage erstaunt: "Ich weiß
es nicht, nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier,
nur so kann ich mein Ziel erreichen”.
Die Beschreibung seines Ziels zeugt von seiner Unwissenheit über
eben diesen Bestimmungsort. Der Akzent wird auf den Weg zum Ziel statt
auf das Ziel selbst gelegt. Dies ist von so großer Bedeutung für
den Protagonisten, daß er die Antwort ein weiteres Mal wiederholt:
"'Weg-von-hier', das ist mein Ziel”. Weg und Ziel sind für den
Reisenden identisch; im Vordergrund steht allein das Begehren, jenseits
der Stadttore zu gelangen. Eine Reise, die ihren Ursprung in einem solchen
Wunsch findet, ist eine "wahrhaft ungeheure”.
Aber bereits der Weg zum Ziel ist für den Reiter nicht begehbar:
Er wird kurz vor dem Stadttore von seinem Diener eingeholt. Die starke
Dynamik, die ihren Ausdruck fand in der Zielstrebigkeit des Fortstrebenden,
sein Pferd zu satteln, um auf dessen Rücken den Reiseweg zu bestreiten,
bricht im wahrsten Sinne ante portas in einem Nichts der Bewegungslosigkeit
ab; der Wunsch und die Hoffnung nach "Aufbruch”, nach Ausbruch aus einer
geschlossenen, von Stadtmauern begrenzten Räumlichkeit wird vor
dem Tor zunichte gemacht. Die Grenze kann nicht überschritten werden.
Gibs auf!:
In dieser Erzählung wird in vier Sätzen
der Gang des Protagonisten am frühen Morgen zum Bahnhof beschrieben.
Eile, Hektik und Dynamik - der Erzähler glaubt sich verspätet
zu haben- gipfeln in seiner plötzlichen Unkenntnis über den
Weg, der zum Bahnhof führt. Einen zufällig anwesenden Schutzmann
scheint der Himmel geschickt zu haben - doch von ihm empfängt der
Reisende nur die Information über die Unmöglichkeit, den Weg
zu erfahren.
Angesichts dieser dilemmatischen und tragischen Situation - das Ziel
ist bestimmt, der Weg aber unbekannt und daher nicht begehbar - muß
die zielstrebige Bewegung des aus der Stadt fortstrebenden Mannes in
Verharren umkippen und damit die ihn kennzeichnende Bewegung des Sturmlaufes
brüsk zum Stehen gebracht werden.
Der Kreisel:
Ein Philosoph konzentriert seine gesamten Überlegungen
auf die Bewegung eines Kinderspielzeugs, einen Kreisel. In dieser Erzählung
wird kein zweiter Raum aufgerufen, im Mittelpunkt steht der Kreisel:
Der Philosoph ist ausschließlich auf ihn fixiert - der "Kreisel
in Drehung, […] gefangen” in seiner Bewegung, macht ihn "glücklich”.
Er verspricht sich von der Erkenntnis dieses Spielzeugs Aufschluß
über die Weltbeschaffenheit: Der Kreis steht als pars pro toto
für die Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit der Welt
- damit erhält die Frage eine metaphysische Dimension.
Der Schwung des Kreisels symbolisiert in höchster Vollendung das
Bild des stehenden Sturmlaufes: Das Spielzeug kreist und dreht sich
um sich selbst, im trüben Wirbel, ohne ein zielgerichtetes Vorwärtskommen
zu verfolgen. Ein Ausbruch aus seinen sich windenden Endlosschleifen
ist unmöglich.
Das Prinzip des Kreisels ist eine Bewegung ohne Ursprung und ohne Ziel,
die einem in sich selbst beständig zurückkehrenden Zirkel
ähnelt. Die Bewegungen scheinen nur um ihrer selbst willen zu erfolgen
- ein sinnmachender Bewegungsablauf ist durch die Beschaffenheit des
Spielzeugs von vornherein ausgeschlossen. Das Zusammentreffen von Statik
und Dynamik, vom Schein der Bewegung und vom Sein der Stagnation wird
durch das Bild des Kreisels wiedergegeben: Der Kreisel dreht sich und
kommt nicht vom Fleck - angetrieben wird er immer und immer wieder von
Kindern zu deren Vergnügen. So wie der Kreisel unter ihren Händen
Endlosschleifen schwingt, "taumelt” auch der Mensch "wie ein Kreisel
unter einer ungeschickten Peitsche”. Die conditio hominis, so muß
der Philosoph am Ende seiner Betrachtungen erkennen, ist identisch mit
dem Bewegungsablauf des Kreisels aufgrund seiner in sich gefangenen,
bis zum Schwindel zirkulierenden und sich nie zu befreien und zu entäußern
vermögenden stehenden Bewegungen.
Die Verwandlung:
Gleich dem Kreisel zieht auch der in seinem Zimmer
gefangene, zum Käfer verwandelte handlungsunfähige Gregor
Samsa mechanisch und ruhelos Kreise um eine leere Mitte. Er dreht und
bewegt sich räumlich um sich selbst - und kommt nicht von der Stelle.
Dieser "stehende Sturmlauf” spiegelt sich auch zeitlich wider: Wie eine
aufgezogene Uhr, jener "Weckuhr”, die unaufhörlich in seinem Zimmer
tickt, kreist er monoton und andauernd um die eigene Achse. Leere Temporalität
und räumliche Rotation kennzeichnen seinen Bewegungsablauf. Der
runde Apfel, den sein Vater nach ihm geworfen hatte und der in seinem
Körper stecken geblieben war, dort langsam faulend, gebietet den
Endlosschleifen, die Gregor durch sein Zimmer zog, Einhalt. Das Obst
stoppt im Käfer die kreisende Bewegung, die der runden Frucht selbst
eigen ist und führt sie dadurch ad absurdum.
Für diese Paradigmenerzählungen des stehenden
Sturmlaufes gilt, daß das Ereignishafte an ihnen ihre Ereignislosigkeit
ist - die Handlung besteht in dem Nicht-Eintreffen einer - erwarteten
- Aktion und damit in der Negation. Der Protagonist kann nicht zum grenzüberschreitenden,
aktiven Helden werden, sondern er entblößt sich als handlungsunfähiger,
in der Bewegung des Nichts verharrender Anti-Held. Sein ganzer Identitätsentwurf
formiert sich um die räumliche Grenze, in der Regel versinnbildlicht
durch eine Tür oder ein Tor, um die herum der "stehende Sturmlauf”
tosend tanzt, um dann abrupt im Vakuum des Nichts zum Stehen zu kommen.
In diesem Zusammenhang kann man von einer "Metaphysik der Tür”
bei Kafka sprechen, um die herum sich alle eitlen, vergeblichen Lebensanstrengungen
und menschlichen Aktivitäten bündeln.
Das Urteil:
Zu Beginn der Erzählung "Das Urteil” wird Georg
Bendemann als Bewohner seines Eltern- hauses eingeführt, der im
Begriff steht, einem im fernen Rußland lebenden Jugendfreund seine
bevorstehende Vermählung mit Fräulein Frieda Brandenfeld brieflich
mitzuteilen. Bendemann verläßt sein Zimmer, um seinen Vater
über die Absicht dieses Briefes zu unterrichten. Es findet eine
Grenzüberschreitung statt, die sich jedoch innerhalb der Wände
seines Elternhauses ereignet: Sein Weg führt ihn von seinem hellen
Zimmer in das dunkle Gemach des Vaters, das beherrscht ist vom Andenken
an die tote Mutter. Zwei Lebensabschnitte treffen aufeinander: Der Vater,
der als Witwer von den Bindungen der Ehe frei geworden ist und der Sohn,
der im Begriff steht, sein Junggesellentum durch Heirat aufzugeben.
Der Dialog mit dem Vater nimmt eine unerwartete Wendung, die in der
väterlichen Verurteilung des Sohnes ihren Höhepunkt findet.
Das den überwiegenden Teil der Erzählungen Kafkas kennzeichnende
tragische Nichtwissen der Protagonisten wird im "Urteil” aufgehoben:
Explizit führt der Vater seinem Sohn dessen Schuld vor Augen: "Jetzt
weißt du auch, was es noch außer dir gab, bisher wußtest
du nur von dir! ” "Hier wird ein klarer Fall menschlicher Schuld statuiert.
Georgs Verbrechen bestand in seiner Egozentrik: Selbstsucht führte
ihn den Pfad zu dieser Katastrophe: […] seine Liebschaft mit Frieda,
der Verlust seiner Reinheit”. Der Vater fährt fort: "Ein unschuldiges
Kind warst du eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer
Mensch! - Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!”
. Willenlos führt der Sohn das Verdikt des Vaters aus. Er fühlt
sich "aus dem Zimmer gejagt”. Georg stürzt im Sturmlauf hinaus
in das pulsierende Leben, auf eine Brücke: "Aus dem Tor sprang
er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das
Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung” und begeht, mit einem
Liebesbekenntnis für seine Eltern auf den Lippen, Selbstmord und
führt damit zugleich seine eigene Hinrichtung aus.
Bendemann schwingt sich über das Brückengeländer - diese
Transgression ist absolut, gleich auf zweifache Weise wird er zum Verlassen
des Lebensraumes bewegt: Zum einen verläßt er die Erdoberfläche,
als er sich in die Fluten des Flusses stürzt, zum anderen entzieht
er sich dem Leben durch den Tod. Hier kommt es zu einer wahren Grenzüberschreitung.
Das Geländer - Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits -
kann überschritten werden, weil Georg von seiner Schuld erfährt,
die er nicht hinterfragt, sondern bedingungslos annimmt. Aufgrund seines
Wissens kann ein Ereignis, eine Handlung stattfinden - sie führt
aber in die Negativität des Todes. Nur die Grenze, die in den Tod
führt, kann überwunden werden, diese Todes-Grenze ist für
Bendemann die "Nahrung”, an die er sich klammert.
In dem Moment seines Todes geht "über die Brücke ein geradezu
unendlicher Verkehr”. Dieser Schlußsatz der Erzählung läßt
sich aufgrund der Doppeldeutigkeit des Wortes "Verkehr” sexualmetaphorisch
interpretieren: Bendemanns Tod ist konstitutiv für die Vermehrung
seiner Mitmenschen, das göttliche Gebot der Prokreativität
kann nur eingelöst werden durch sein Dahinscheiden. Sein Tod gleicht
einem Erlösertod. Als Bendemann aus dem Elternhaus gejagt wird,
trifft er auf die Bedienstete, "die im Begriffe war herauszugehen, um
die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen. 'Jesus!' rief sie […]”
bei seinem Anblicke aus. Der Ausruf "Jesus” verdeutlicht die ursächliche
Verbindung zwischen dem Tod des Sohnes für seinen Vater und der
Bedeutung des Erlösertodes, der sein Dahinscheiden für die
übrige Menschheit hat.
Die bisherigen Ausführungen erlauben die Schlußfolgerung,
daß der "stehende Sturmlauf”, der Strukturmerkmal im Erzählwerk
Franz Kafkas ist, nur durchbrochen werden kann, wenn die dann eintretende
Grenzüberschreitung unmittelbar in den Tod führt. Eine Transgression
hin zu positiv semantisierten Räumen ist unmöglich. Nur in
der Negativität kann es zu einer Entgrenzung kommen, nur in Gestalt
der Selbstzerstörung des Protagonisten kann eine Veränderung
der Ausgangslage realisiert werden.
Ein Aphorismus Kafkas lautet: "Es gibt ein Ziel, aber
keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern” (Tagebucheintragung
vom 17.09.1920); an anderer Stelle heißt es: "Mein Leben ist das
Zögern vor der Geburt”. Der Protagonist strebt in den angeführten
Erzählungen ein Ziel an. Der Weg, der angetreten, aber fast nie
vollendet wird, ist der des stehenden Sturmlaufes. Kommt es dennoch
zur "Geburt” und damit zur Grenzüberschreitung, ist diese gleichbedeutend
mit dem Tod. Stehender Sturmlauf oder Tod - dieses sind die beiden Antworten
auf die Frage nach den Lebensmöglichkeiten des kafkaischen Menschen.
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