Sunday, 30 August 2015

Sigrid Damm on Sebald

Nentwich:  Sie haben W. G. Sebald erwähnt...
Damm: Ja, wir waren durch den Mörike-Preis der Stadt Fellbach verbunden. Sebald hat den Preis nach mir bekommen, ich habe ihm mit meinem Lenz gratuliert. Er hat geantwortet, daß er das Buch seit langem besitze, es liebe und stets mit seinen Studenten behandle. Dann hat er mich in meiner kleinen Berliner Wohnug besucht. Wir haben sehr schnell Übereinstimmungen festgestellt. In Dingen, die wir nicht mögen, am Literaturbetrieb zum Beispiel. Oder bei den Akademikern. Diesen fatalen Kanon des Unterrichts, die Exerzitien von Theorien und Theoremen, die den lebendigen Leib der Literatur töten, dieses oft fehlende Gespür für die Sprache. Sebald --- selbst Germanistikprofessor -- war ja ein Mann von hoher Sprachkompetenz, hohem Sprachbewußtsein. Sehr schnell einig waren wir uns auch in der Ablehnung einer Literatur, die bei Publikum und Kritik hoch im Kurs steht, gekonnt mit Spannungselementen, mit Krimi-Effekten arbeitend, brillant geschrieben, handwerklich gut gemacht, der aber eines fehlt: der autoreigene Sinn, der Schmerz. Sebalds Melancholie war ja keine Attitüde. Er hatte keine Pathosallergie -- ich spiele auf Sebastian Kleinschmidts Essay Pathosallergie und Ironiekonjunktur an -- Melancholie und Schmerz waren ihm zutiefst wesenseigen, bedingten den Humanismus seines Werkes. Max -- so nannten seine Freunde ihn -- war für mich neben Markus Werner, dessen Werk ich liebe und mit dem ich auch befreundet bin, im letzten Jahrzehnt der wichtigste Autor im deutschsprachigen Raum. Sebalds früher Tod hat mich sehr getroffen.

Sigrid Damm, Einmal nur blick ich zurück. Auskünfte, Ffm 2010, 121f, interview with Andreas Nentwich