Saturday, 19 August 2017
verpflichtende Genauigkeit mit ihrer wartenden Verborgenheit
Im »Neuen Musiklexikon« von 1926, das den Anspruch erhebt, samt der Moderne auch den Bestand der jüngeren Vergangenheit nach gegenwärtigen Maßstäben zu sichten, wird von Brahms gesagt: »Für die 'Moderne' ist er zweifellos der einflußloseste aller Meister, was seiner Größe, der Erfüllung seiner geschichtlichen Mission, nicht den mindesten Abbruch tut.« Die Logik des Satzes, eingegeben von jenem fröhlichen Eifer zur Neuheit, der endlich das Neue um des in Wahrheit Abgestandenen willen preiszugeben geneigt ist, wofern es nur für noch neuer ausgegeben wird, zeugt gegen sich selber: denn was soll wohl die »Erfüllung der geschichtlichen Mission« eines vor wenig mehr denn dreißig Jahren Verstorbenen bedeuten, wenn gleichzeitig gesagt wird, er habe keinen »Einfluß« mehr? Trotzdem verlohnt es sich, sachlich zu widersprechen: nicht um Brahmsens willen, der der Verteidigung nicht bedarf, sondern der stichhaltigen neuen Musik zuliebe, die durch solche Thesen mißdeutet und diskreditiert wird und um so eher sich rechtfertigt, je weiter sie tatsächlich von jener eilfertigen Gesinnung abliegt, die da nicht bloß Undankbarkeit vorm Gewesenen, sondern mehr noch Oberflächlichkeit im Heutigen erweist.
Zunächst, selbst die historische Rückschau auf den Ursprung der neuen Musik vermag die These nicht zu rechtfertigen. Reger, von dem das gleiche Lexikon generös versichert, er sei »geschichtlich das eigentliche Bindeglied zwischen der Nachklassik und Nachromantik und der Neuen Musik«, ist ohne Brahms schlechtweg undenkbar: die Wiederaufnahme der absoluten Musik im Rahmen der kammermusikalischen Sonate, der Klaviersatz in 'Griffen', tieferhin aber die Technik der motivischen Aufspaltung der Themeneinheit, ihre Verwandlung durchs überall waltende Prinzip der Durchführung, und vor allem der Stil der harmonischen Polyphonie ist ohne Brahms nicht zu denken; selbst das radikalste Ergebnis Regers, die musikalische 'Prosa' durch metrische Lockerung, ist den Brahmsischen Dehnungen und Kürzungen verpflichtet. Wieviel der junge Schönberg ihm verdankt, kann selbst der oberflächliche Blick noch an dem Lied »Am Wegrand« aus op. 6, also bereits der evolutionären Periode, erkennen. Weniger bekannt ist, daß auch die ersten kammermusikalischen Arbeiten Hindemiths (vor op. 10) sich offen mit Brahms auseinandersetzen. Das sollte historisch genügen; immerhin könnten Historiker auf den Einfall kommen, Brahms sei eben 'überwunden' worden. Wie steht es nun damit?
Gewiß, keiner schreibt mehr die lastenden Sexten über nachschlagenden Triolen; wenige die treulichen Reprisen, gar im kürzeren Klavierstück, und der Brahmsische 'Ton', die mühsam gelöste Stummheit, das schwere Atemholen eines gleichsam unablässigen Alterns der Musik, wird als Nachahmung kenntlich, wann immer ihn einer versuchte - eben weil er so tief dem Brahmsischen Ursprung, und das sagt zugleich: seiner Verfahrungsweise, verschwistert ist. Aber das zeigt doch nicht mehr von Brahms, als was, nach seinem eigenen Ausdruck, »jeder Esel hört«.
Das Eigentliche ist nicht ebenso kenntlich, in Verborgenheit jedoch um so wirksamer. Es erschließt sich am ehesten der Besinnung auf Brahmsens Ausgangsmaterial. Es war das Schumannsche, jene melodische Homophonie, die dem Gesang und dem harmonischen Fund zuliebe die große Beethovensche Sonatenkonstruktion durch subjektiven Ausdruck aufgeweicht, ihre Kontraste in lyrisches Liederspiel, ihre tektonischen Wiederholungen in den kreisenden Wiederholungszwang des eingeschlossenen Ich verwandelt hatte.
Nach dem Schumannschen Opfer besinnt in Brahms der objektive Sonatengeist sich gleichsam auf sich selber. Seine ganze Größe ist darin gelegen, wie streng solche Besinnung sich an den Ort und die Stunde bindet, da sie sich vollzieht. Der unmittelbare Rückgriff auf Beethoven ist, im Namen der Schumannschen Subjektivität und ihres verwandelten Musikstoffes, nicht möglich; die neudeutsche und Chopinsche Chromatik, die noch nicht vom Theater her ihr großes Gelingen im reifen Wagner gefunden hat, scheint einstweilen, im Bereich der Sonatenform, bloße Steigerung der Schumannsituation. Der sprengende Weg hindurch ist nicht der Brahmsische, aber auch nicht, oder nur gelegentlich, der zurück: vielmehr die Versenkung. Tiefsinnig schaut seine Musik ihr Material, eben das der Schumannschen Hochromantik, in seiner Selbstgegebenheit solange an, bis aus dessen eigenen Forderungen die Objektivation gerät: Objektivation des Subjektiven. Was bei Wagner der dynamische Sturm vollbringt, leistet bei Brahms die hartnäckige Insistenz. Seine Resultate aber haben um so mehr Dauer, Dauer gerade für die nachfolgende kompositorische Praxis, je weniger sie an der Außenfläche des Klangphänomens haften, je weniger sie darum der Abnutzung als 'Reiz' ausgesetzt sind.
Ihre genaue Analyse wäre ein großer kunsttheoretischer Gegenstand: gewiß kein geringerer als die Bruckners. Mögen nur Stichworte gegeben sein: die harmonischen Funde Schumanns werden aus ihrer expressiven Vereinzelung gelöst und nach ihnen die harmonische Struktur neu bestimmt: sie bilden selbständige Nebenstufen, die sinnvolle akkordische Gleichgewichtsverteilung auch über lange Strecken ermöglichen und, gegenüber dem 'klassischen' Schema von Subdominante, Dominante und Tonika, gleichwohl den subjektiv erschlossenen Reichtum halten. Beethovens symphonischer Lapidarstil mit der Sequenzierung identisch durchgehaltener Motive (erster Satz der Fünften) ist mit solchem harmonischen Bewußtsein so wenig vereinbar wie die Wagnerische chromatische Sequenz: statt dessen wird Beethovens spezifische Durchführungstechnik weitergebildet und zu einer Kunst der Variation gesteigert, die in den Expositions- und Durchführungsteilen aus dem Bewahrten, Bekannten unablässig Neues entwickelt, ohne eine 'freie', konstruktiv zufällige Note sich zu gestatten. Dem entspricht eine Kunst der ökonomischen Themenaufteilung in kleinste Motive, die als Konsequenz aus der Sonate ähnliches entwickelt wie Wagner aus dem Zwang der dramatisch prägnanten Charakterisierung, ohne doch, zwischen Motiv und Großform, das gestalthafte Thema als Träger der Substanz zu opfern. Es ist eine großartige, unbequeme, doch im heutigen erhellten Materialbewußtsein wahrhaft erst fällige Unnaivetät des Komponierens, die Brahms, im entscheidenden Gegensatz zu Bruckner, beherrscht und deren seltsamer musikalischer Erkenntnischarakter seine heilende Kraft erst beweist, wenn der schmerzhaft romantische Drang der Affekte abgestorben ist. Die Umschmelzung und Rekonstruktion der Sonate selber bleibt als dessen bis heute noch unbewältigte Idee zurück: in dem unver-gleichlichen ersten Satz von Brahmsens Vierter Symphonie ist sie aufs genaueste formuliert.
Die Situation der gegenwärtigen Musik aber und die Problemgeschichte ihrer besten Vertreter macht die Wiederaufnahme jener Brahmsischen Intentionen unabweislich. Nachdem unsere Dissonanzen nicht als Reiz mehr frommen und nicht mehr als Ausdruck chaotischer Seelenverfassung, sondern bloß als neuer Musik-Stoff; nachdem der neoklassizistische Rückgriff als zu kurz, als materialfremd sich herausstellte, werden jene Kategorien musikalischen Bewußtseins fällig, die Brahms aus dem Material entwickelte und die, unentdeckt bis heute, eben darüber hinausweisen. Das Brahmsische Stufendenken gibt den Grund ab aller legitimen Reihenkomposition; seine verschlossen abwandelnde Dynamik wird zum Korrektiv der imitierten Terrassenstarrheit; die Ökonomik seiner Variationskunst lehrt zwangvoll die Ökonomik materialgerechten Verfahrens; und die in Brahmsens besten Werken geforderte Umorganisation der großen Form bleibt, mit Nachdruck sei es wiederholt, noch erst zu leisten. Leicht könnte es sogar geschehen, daß man die Substanz der Neuen Musik gerade in der Erfüllung jener Brahmsischen Postulate - die gewissen Theorien des späten Hölderlin verwandt sein mögen -finden wird, während die beunruhigenden Klänge als notwendig zwar, doch bloße Akzidentien ihre Selbstverständlichkeit gewinnen.
Mag immer der Brahmsische Ton ohne 'Einfluß' sein; was gilt überhaupt in Kunst jener offenkundige Einfluß? Er hat dafür Gesetze gestiftet, deren verpflichtende Genauigkeit mit ihrer wartenden Verborgenheit wetteifert. An künftigen Brahms-Aufführungen, die die Gesetze, und nicht das akademische Erbe oder die herbstlichen Farben realisieren, wird es wesentlich gelegen sein, ob sie aufgedeckt werden, so, wie sie bislang schon fruchtbar waren.
Adorno - Brahms aktuell