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Friday, June 09, 2023

Geopolitik: Georgien zwischen den USA/EU und Russland

Interessanter spieltheoretischer Blick auf die Problematik Georgiens, das dem geopolitischen Druck zwischen den USA/EU und Russland ausgesetzt ist.

"Georgien befindet sich in einer heiklen Situation, gefangen zwischen den Interessen des Westens und Russlands. Die politische Erzählung der Regierung, die besagt, dass es entweder Krieg und Westbindung oder Frieden mit Russland und territoriale Integrität gibt, ist falsch. Die Versprechen Russlands erweisen sich als Illusion, während die Regierung die Macht und finanziellen Gewinne ausnutzt.

Sowohl die EU und der Westen als auch Russland haben jeweils ihre "diplomatischen Hebel", die sie ausspielen können - sei es äußerst begehrte Belohnungen auszuzahlen oder erhebliche negative Auswirkungen auf Georgien wirken zu lassen. Mit der zunehmenden Verschärfung der regionalen Geopolitik könnte der Druck auf beide Parteien steigen, diese Karten auf den Tisch zu legen.

Die endgültigen Schritte Russlands hängen von den schwerwiegenden Repressalien ab, die es verhängen kann, wie beispielsweise die formelle Eingliederung von Südossetien in das russische Staatsgebiet, militärische Gewalt oder wirkungsvolle Wirtschaftssanktionen. Die Wahrscheinlichkeit solch harter Restriktionen ist höher als alle vermeintlichen Vorteile.

Auf der anderen Seite könnte der Westen die Aufnahme Georgiens in die NATO und/oder die EU beschleunigen, was einen bahnbrechenden Wendepunkt bedeuten könnte. Wenn sich Georgien jedoch Russland zuwendet, könnte der Westen ernsthafte Sanktionen in Betracht ziehen, ähnlich wie im Fall von Belarus.

Die Entscheidung der EU im Dezember 2023 über Georgiens Kandidatur wird die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung dieser Strategien erheblich beeinflussen. Die sich entwickelnde Dynamik in der Ukraine, interne politische Prozesse und internationale Entscheidungen werden die geopolitische Entwicklung Georgiens maßgeblich prägen.

Premierminister Gharibashvili hat zugesichert, die Voraussetzungen der EU für den Kandidatenstatus zu erfüllen. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass die "Depolarisierungskomponente" erst nach der Anerkennung Georgiens durch die EU angegangen werden sollte. Dies spiegelt die Frustration über den EU-Prozess wider.

Die Partei "Georgischer Traum" zeigt eine zunehmende Ausrichtung auf Russland, im Gegensatz zur konsequent proeuropäischen Haltung von Präsident Zurabischwili. Dennoch verdeutlicht die pro-westliche Stimmung von über 85 % der Georgier die Diskrepanz zwischen den Maßnahmen der Regierung und der öffentlichen Meinung.

Die geopolitische Entwicklung Georgiens steht vor einer bedeutsamen Veränderung. Die bevorstehende Entscheidung der EU über Georgiens Kandidatur im Dezember 2023 wird ein entscheidender Faktor sein, der die Ausrichtung Georgiens entweder auf den Westen oder auf Russland beeinflussen könnte.

Wenn die EU Georgiens Kandidatur zustimmt, könnte dies einen entscheidenden Wandel hin zu einer stark pro-westlichen Ausrichtung bedeuten, der interne Spannungen mildern und möglicherweise den Einfluss Russlands neutralisieren würde. Allerdings könnten schwere russische Vergeltungsmaßnahmen die Folge sein.

Falls die EU Georgiens Kandidatur ablehnt, könnten pro-russische Gefühle verstärkt und interne Unruhen angefacht werden. Dies könnte die Regierung ermutigen, ihre pro-russische Ausrichtung zu vertiefen und zu einer Eskalation der politischen Polarisierung und möglicherweise zu gewaltsamen Protesten führen.

Die Haltung Georgiens zum Ukraine-Krieg, die antiwestliche Rhetorik sowie eine politisierte und korrupte Justiz, die Freiheiten und die Demokratie untergräbt, bereiten der EU und den USA große Sorgen. Die Entscheidung über Georgiens EU-Kandidatur unterstreicht die Bedeutung des bevorstehenden Urteils.

Die georgische Regierung und das georgische Volk stehen vor einer dringenden Notwendigkeit, potenzielle Gewinne gegen die möglichen Auswirkungen sowohl des Westens als auch Russlands abzuwägen und in den kommenden Monaten Entscheidungen zu treffen, die über das Schicksal ihrer Kinder entscheiden werden."

Thursday, May 11, 2023

Geopolitik: Georgiens Position zwischen dem Westen und Russland.

Zusammenfassung einer Analyse von Kornely Kakachia & Bidzina Lebanidze - von Ralph Hälbig.

Georgien hat in der Vergangenheit enge Beziehungen zu Nachbarländern gepflegt und euro-atlantische Integrationsziele verfolgt. Nach der russischen Invasion der Ukraine hat Georgien jedoch eine Distanz zum Westen und zu Russland aufrechterhalten und eine Politik verfolgt, die Russland an erster Stelle stellt. Die Regierung hat sich zwar nicht den Sanktionen des Westens gegen Russland angeschlossen, betont aber, dass sie sich an alle Sanktionen hält und nicht zulassen wird, dass ihr Territorium zur Umgehung dieser Sanktionen genutzt wird. Die EU hat Georgien Aussicht auf einen Beitritt gegeben, aber das Land muss seine derzeitige konzeptionelle Unklarheit aufgeben und eine festere Position in der geopolitischen Rivalität zwischen Russland und dem Westen einnehmen, um seinen langfristigen strategischen Interessen gerecht zu werden. Die derzeitigen Taktiken der Regierung stehen im Widerspruch zu den langfristigen Interessen Georgiens und führen zu einer gewissen Entfremdung vom Westen und zu Schäden für die Beziehungen zu Kiew. Die meisten Georgier unterstützen die Integration in die EU und die NATO.

Georgiens Position zwischen dem Westen und Russland wird zunehmend schwieriger, da die EU den Druck erhöht, um sicherzustellen, dass ihre Nachbarn Moskau bei der Umgehung von Sanktionen nicht unterstützen. Georgiens Entscheidung, neue U-Bahn-Wagen aus Russland zu kaufen und die Offenheit georgischer Beamter gegenüber Direktflügen mit Russland haben in Georgien und im Westen bereits Gegenreaktionen ausgelöst. Die EU fordert auch eine Anpassung der Visumpolitik Georgiens, was politische und wirtschaftliche Kosten für das Land haben könnte. Obwohl die Mehrheit der Georgier bereit ist, auf Handelsbeziehungen mit Russland zu verzichten, könnte Georgiens wachsende Divergenz von relevanten EU-Erklärungen und liberale Handelspolitik eine ernsthafte Sorge für die EU darstellen. Es bleibt jedoch unklar, ob Georgien tatsächlich in eine konfliktreichere Beziehung zu Russland geraten wird oder ob die georgische Führung diese Risiken übertreibt, um ihre transaktionale Äquidistanz zwischen Russland und dem Westen zu rechtfertigen.

Das Verhalten Georgiens in der Außenpolitik kann nicht allein durch eine durch eine Perspektive auf die internationalen Beziehungen erklärt werden, die Staaten als monolithische "Black Boxes" betrachtet. Vielmehr wird es durch die inländische Politik bestimmt, die sich um die politischen Neigungen der Regierung und der Opposition dreht. Der EU-Beitrittsprozess erfordert politische Reformen, die die Macht der Regierung schwächen könnten. Die Regierung priorisiert jedoch ihr eigenes politisches Überleben über die europäisch orientierte Zukunft des Landes. Diese Priorisierung wird teilweise durch eine toxische politische Kultur geprägt, die eine Nullsummenspiel-Mentalität unter politischen Akteuren fördert. Jede Machtrotation in Georgien führt zu Repressionen gegenüber den Führern des ehemaligen herrschenden Regimes. Die inländische Dimension allein erklärt jedoch nicht Georgiens außenpolitische Dilemmata, wie die Frage, ob eine wertebasierte Außenpolitik, die auf die EU ausgerichtet ist, und eine pragmatisch ausgewogene Außenpolitik, die darauf abzielt, Russland zu besänftigen, langfristig kompatibel sind. Trotzdem unterstützt die USA weiterhin die europäische Integration Georgiens.

Die aktuelle Regierung Georgiens setzt bei ihrer Außenpolitik auf eine Beschwichtigung Russlands, was einen Bruch mit der bisherigen Tradition darstellt. Diese transaktionale Außenpolitik, die auf kurzfristige Vorteile ausgerichtet ist, lehnt wertebasierte Politikgestaltung ab und vernachlässigt eine langfristige strategische Vision. Während Flexibilität im Umgang mit den Sicherheitsrisiken Russlands notwendig ist, stellt eine Annäherung an Russland langfristig keine Lösung dar und hält Georgien von einer Zusammenarbeit mit NATO und EU ab. Die Beobachtung des georgischen Falls wird zeigen, ob transaktionale Außenpolitik herrschenden Regimen in kleinen Staaten helfen kann, ihre Macht abzuschirmen und durch geopolitische Turbulenzen zu navigieren.

Der ganze Text in englisch: Tbilisi’s Transactional Foreign Policy Leads Georgians Astray. By Kornely Kakachia & Bidzina Lebanidze [ponarseurasia]

Tuesday, May 02, 2023

In Tbilisi. Der britische Journalist Andrew Cockburn zu den jüngsten Ereignissen in Georgien (London Review of Books - May 2023)

Joshua Kusera monierte an diesem langen Artikel von Andrew Cockburn, dass neben vielen interessanten Perspektiven sich auch einige Fehler eingeschlichen haben. Jedoch stellt er fest, dass seine Interpretation der Situation und der Ereignisse in Georgien vielversprechender, tiefgründiger und nachdenklicher sind, als viele Depeschen aus der internationalen Presse zu den vergangenen Ereignissen ...

Zusammenfassung: Anfang März fand in Tiflis, Georgien, ein Protest gegen ein neues Gesetz statt, das Organisationen, die mehr als 20 % ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, dazu zwingen würde, sich als "Agenten ausländischen Einflusses" zu registrieren. Der Protest, der ursprünglich für zwei Tage später geplant war, zog eine junge Menschenmenge an, die besorgt über die möglichen Auswirkungen des Gesetzes auf die Zivilgesellschaft war. Der Protest stieß auf Polizeiwiderstand, unter anderem mit Wasserwerfern und Pfefferspray. Viele der Demonstranten hatten durch die florierenden Nachtclubs der Stadt, die als Gemeinschaftszentren für die jüngere Generation fungieren, von den Demonstrationen erfahren. Die Clubs schlossen, um die Gäste zu ermutigen, stattdessen zu demonstrieren. Die Demonstranten befürchteten, das Gesetz würde ihre Verbindung zu liberalen Freiheiten zerstören und den NGOs, von denen viele abhängig sind, ausländische Gelder entziehen. Selbstgemachte Schilder auf Georgisch und Englisch zeigten Unterstützung für Europa und denunzierten Russland. Graffiti mit der Aufschrift "Russen abschieben" sind an Stadtmauern aufgetaucht und spiegeln eine antirussische Stimmung im Land wider. Der milliardenschwere Oligarch Bidsina Iwanischwili, der keinen offiziellen Posten hat, aber weithin für den wahren Herrscher Georgiens gehalten wird, wurde auf Protestschildern in einer heißen Umarmung mit Putin abgebildet. Die Regierung zog das Gesetz schließlich nach drei Tagen eskalierender Proteste zurück.

In Georgien haben Straßenproteste eine lange Geschichte erfolgreicher Veränderungen. Im Jahr 1978 protestierten Tausende gegen die Entscheidung des Kremls, die russische Sprache zur offiziellen Sprache Georgiens zu machen. Der damalige Kommunistenführer Eduard Shevardnadze konnte Moskau davon überzeugen, Georgisch als offizielle Sprache zu akzeptieren. Über ein Jahrzehnt später, im Jahr 1989, wurden Proteste für die Unabhängigkeit von der UdSSR blutig niedergeschlagen. Shevardnadze wurde später Präsident und stabilisierte das Land, aber sein Regime war von weit verbreiteter Korruption geprägt. 2003 wurden die Wahlen von der Opposition als manipuliert angeprangert und der damalige Oppositionsführer Saakashvili führte einen erfolgreichen Sturm auf das Parlament an. Als Präsident setzte Saakashvili Reformen durch, die die Korruption bekämpften und das Land modernisierten. Die international finanzierten NGOs unterstützten den Wandel, aber es gab auch Vorwürfe, dass geheime Kräfte im Spiel waren. Die großen Bauprojekte, die Saakashvili initiierte, waren jedoch umstritten und einige der ehemaligen politischen Gegner wurden später verhaftet.

Saakaschwilis großen Projekte, die von Deregulierung und anderer neoliberaler Politik begleitet wurden, brachten ihm Lob im Westen ein. Er zeigte seine Loyalität gegenüber den USA, indem er Truppen zur Besetzung des Irak und Afghanistans entsandte. Anfangs schien Putin bereit zu sein, Saakaschwili nachzugeben, aber er provozierte Russland bald, indem er die unbewaffneten Friedenspatrouillen in Südossetien um Militärpolizei erweiterte. Bis 2006 hatten die Russen entschieden, dass Saakaschwili nicht vertrauenswürdig und ein Vasall Washingtons sei. 2008 schickte Saakaschwili die georgische Armee nach Südossetien, und Russland griff an, errichtete Militärbasen in Südossetien und Abchasien und erkannte sie als unabhängige Staaten an. Innerhalb Georgiens beteiligten sich Beamte von Saakaschwili an Erpressungen und anderen kriminellen Aktivitäten, einschließlich Folter durch die Polizei. Bis 2012 hatte Georgien die größte Gefängnisbevölkerung pro Kopf in Europa.

Bidzina Ivanishvili, ein einst armer Junge aus einem Dorf in Westgeorgien, der Milliarden in Russland verdiente und als "Python" in Wirtschaftskreisen bekannt wurde, blieb lange Zeit von Regierungsexekutionen unberührt. Nachdem er Yeltsin bei der russischen Präsidentschaftswahl von 1996 geholfen hatte, wurde er Teil der Oligarchen-Elite und durfte am "Kredite-für-Aktien"-Programm teilnehmen, das wenige Auserwählte zu unermesslichem Reichtum verhalf. Nachdem er in Hotels und Immobilien in Georgien investiert hatte, gründete er 2012 die politische Bewegung Georgian Dream und gewann die Parlamentswahlen. Obwohl er später als Premierminister zurücktrat, behielt er seine Macht durch seine Beziehungen zu seinen ehemaligen Leibwächtern und Sekretären. Ivanishvili äußert seine Wünsche durch verschiedene Mitarbeiter, einschließlich enger Verwandter, die sie an die Regierung weitergeben.

Obwohl er eine scheinbar entspannte Einstellung hat, hat Ivanishvili viel zu bedenken. Seine persönliche Sicherheit, die seiner Familie und seines Vermögens sei seine größte Sorge. Er glaubt, dass Angriffe auf sein Vermögen politisch motiviert sind. Ivanishvili hatte 2005 mehr als eine Milliarde Dollar an die Wealth-Management-Abteilung der Credit Suisse anvertraut, aber sein Konto war eines derjenigen, die von einem hochrangigen Bankbeamten geplündert wurden. Die Bank weigerte sich, Ivanishvili zu entschädigen, behauptete jedoch, keine Verantwortung für die Taten ihres Mitarbeiters zu tragen. Ivanishvili verklagte die Bank und erhielt schließlich mindestens 900 Millionen Dollar. Nach der russischen Invasion der Ukraine hatte er jedoch Schwierigkeiten, sein Geld aus der Schweiz zu bekommen. Ivanishvili sieht sich als Ziel einer von Washington orchestrierten Kampagne und beschuldigt die EU, ihn de-oligarchisieren zu wollen, bevor Georgiens Mitgliedschaft berücksichtigt wird.

Ivanishvili's anhaltende Herrschaft durch die von ihm kontrollierte georgische Partei "Georgischer Traum" hängt teilweise von dem Mann ab, den er abgesetzt hat - Saakashvili. Nachdem Saakashvili seine neue Staatsbürgerschaft in der Ukraine verloren hatte, versuchte er zurück an die Macht in Georgien zu kommen, wurde jedoch wegen Verbrechen verhaftet. Obwohl Saakashvili inhaftiert ist, nutzt die georgische Regierung seine Verhaftung als politisches Narrative, um die Opposition zu diskreditieren. Die Regierung befürchtet, dass sie das nächste Ziel Russlands sein könnte und nutzt dies als Mittel, um ihre eigene Macht zu konsolidieren.

Der ganze Text auf englisch hier (London Revie of Books - 04.05.2023 / lrb.co.uk): In Tbilisi. By Andrew Cockburn

Monday, April 20, 2020

BÜCHERSCHAU von Urs Unkauf: Ammon, Philipp (2020): Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Klostermann-Verlag

Die Beziehungen zwischen Georgien und Russland sind heute überschattet. Einerseits kritisiert Georgien die Einmischung Russlands und dessen Aktivitäten in Abchasien und Südossetien. Andererseits sieht die russische Seite ihre traditionelle politische Einflusssphäre durch die Entscheidung Georgiens für den Weg in die euro-atlantische Integration gefährdet. Dass die Wurzeln dieser aktuellen Konflikte tiefer liegen, zeigt Philipp Ammon in seinem Buch. Ausgehend von der Frage „wie es zur Konfrontation zweier Völker kam, die keine tiefverwurzelte, gleichsam metaphysische Feindschaft“ (S. 9) trenne, stellt Ammon die georgische und russische Perspektiven gegeneinander. Dabei kommen politische, aber auch literarische Akteure zu Wort. Ammon beginnt mit der georgischen Geschichte. Er startet in der Antike und kommt dann im 18. Jahrhundert an. Konkret geht es um den 1783 geschlossenen Vertrag von Georgijewsk, in dem die georgischen Könige einem Bündnis mit dem Zaren beitraten. Dies hatte den Verlust der Souveränität über die außenpolitischen Kompetenzen zur Konsequenz. Es geht weiter mit der Annexion Georgiens durch das Zarenmanifest von 1801. Es folgen wechselseitige literarische Wahrnehmungen, die Entwicklung der georgischen Nationalbewegung und kirchliche Konflikte. Das letzte Kapitel nimmt den chronologischen Faden wieder auf. Es befasst sich mit der Zeit nach der Revolution von 1905 bis zur ersten georgischen Republik, die 1921 durch den Einmarsch der Roten Armee endete.

Die Beziehungen zwischen Georgien und Russland waren nach Ammon „ein Muster von Nähe und Fremdheit, von Verbundenheit und Abkehr, von russisch-imperialer Homogenisierung und georgischer Identitätsbehauptung“ (S. 212). Ammon legt die historischen Wurzeln dieses Spannungsgeflechtes frei. Ein lesenswertes Werk für alle, die Georgien besser verstehen wollen, und zugleich bereit sind, auch über Russland Neues zu lernen.

Urs Unkauf, Berlin Bücherschau WeltTrends • Das außenpolitische Journal • 161 • März 2020 • 28. Jahrgang • S. 66 Ammon, Philipp (2020): Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Klostermann-Verlag, 238 Seiten, 29,80 Euro.

welttrends.de

Saturday, March 28, 2020

GESCHICHTE: Georgien - Spielball im "Great Game" - über Georgiens Geschichte und das ambivalente Verhältnis zu Russland - von Philipp Ammon. Rezension von Claus-Dieter Stille. via @derfreitag


Buchbesprechung [freitag.de] Philipp Ammon hat es unternommen, ein tief lotendes Buch über Georgiens Geschichte und das ambivalente Verhältnis zu Russland geschrieben

Über Georgien hört man im Grunde nichts bzw. sehr selten etwas. Erst recht nicht heute, in Zeiten, wo der Corona-Virus "regiert". Ein kleiner, christlich geprägter Staat (sh. Wikipedia) mit gerade einmal 3.729.635 Einwohnern. Das Land erklärte sich am 26. Mai 1918 für unabhängig und erlangte nach dem Ende der UdSSR am 9. April 1991 wieder die Unabhängigkeit. Ich kannte das Land lange nur unter der vom Russischen herrührenden Bezeichnung Grusinien (Грузия (Grusija) früher gelegentlich auch Grusien oder Grusinien genannt; Quelle: Wikipedia).

Zuletzt war Georgien während der Olympischen Spiele in Peking stärker in den Fokus der Nachrichten gerückt. Micheil Saakaschwili, von 2004 bis 2013 Staatspräsident Georgiens, (an dessen geistiger Gesundheit so mancher zweifelte) ließ, während die Weltöffentlichkeit mit den Olympischen Spielen beschäftigt war, in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 – also zeitgleich mit dem Beginn der Olympischen Spiele in Beijing - die Hauptstadt der "abtrünnigen Republik" Südossetien, Zchinwali, militärisch angreifen, um dieses - innerhalb der Grenzen der früheren sowjetischen Teilrepublik Georgien gelegene - Territorium (erstmals seit der Zerstörung der UdSSR) der Hoheit des unabhängigen georgischen Staates zu unterstellen. Russland, das sich als Schutzmacht Südossetiens verstand (und versteht), reagierte mit einem militärischen Gegenschlag und drang auf "kerngeorgisches" – wie es hieß - Territorium vor.

Über die Geschichte Georgiens dürften viele von uns – beschönigend ausgedrückt - keine größere Kenntnis besitzen. Das Verhältnis von Georgien und Russland ist ambivalent. Der Historiker Philipp Ammon charakterisiert es in seinem Buch „Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924“ als „tiefverwurzeltes, gleichsam metaphysisches Spannungsverhältnis“ . Gegen Ende seines hochinteressanten Buches lesen wir in den Schlussbetrachtungen:

„Im Verhältnis der beiden christlich-orthodoxen Länder unterschiedlich ausgeprägter Tradition spiegelt sich ein Muster von Nähe und Fremdheit, von Verbundenheit und Abkehr, von russisch-imperialer Homogenisierung und georgischer Identitätsbehauptung. Die Beziehung von Georgiern und Russen war von Anbeginn die ungleicher Partner. Seit dem späten Mittelalter sehen wir das kleine Georgien als beim nördlichen Reich Schutzsuchenden. Das Zarenreich war hingegen seit Peter d. Gr. an einer Ausgangsbasis für ein weiteres imperiales Ausgreifen nach Persien – späterhin mit Perspektive auf Indien – und den Dardanellen interessiert. Eine Harmonisierung derart unterschiedlicher Interessen fand zu keiner Zeit statt. Wie schon erstmals im Jahr 1483 König Alexander I. von Kachetien gegenüber dem Großfürsten – in der Selbstbezeichnung gegenüber Mindermächtigen sich erstmals „Zar“697 bezeichnenden – Ivan III. d. Gr. oder um 1720 Vaxt’ang VI. gegenüber Peter d. Gr. traten bei den Verhandlungen zu dem immer wieder zitierten Vertrag von Georgïevsk 1783 die Georgier als Bittsteller auf. Auf die von Georgiern bis heute als "Verrat" gedeutete verheerende Niederlage von K’rc’anisi (1795) gegen die Perser folgte die unter demütigenden Umständen vollzogene Annexion von 1801. Die Wegführung der Bagratiden nach Russland erscheint symbolhaft für den rücksichtslosen Umgang des Imperiums mit dem hilflosen kaukasischen Königreich. Anders als beim Anschluss der baltischen Provinzen unter Peter d. Gr., bei welchem sämtliche ständischen Rechte gewahrt und die deutsche Selbstverwaltung beibehalten wurde, oder bei der Inkorporation des durch einen Bagratidengeneral eroberten Finnland (1809) nahmen die Russen bei der Annexion Georgiens keine Rücksicht auf die lokalen Traditionen. Der Modus der Annexion – der dem Adel unter Bajonetten aufgezwungene Treueid in der Zionskirche 1802 – blieb im historischen Gedächtnis des Volkes, nicht nur des Adels haften. Zum ersten Bezugspunkt des verletzten Rechtsbewusstseins wurde so die Missachtung der im Vertrag von Georgïevsk getroffenen und in den Bittpunkten vom Zaren bestätigten Vereinbarung über die Beibehaltung des bagratidischen Königtums. Die Inkorporation Georgiens folgte demselben Muster wie die der benachbarten muslimischen Khanate.

697 v. Rimscha, S. 142.“

Nichtsdestotrotz, arbeitet der Autor heraus, gibt es in beiden Völkern Sympathien für das jeweils andere Volk. Ebenso freilich Antipathien.

Das wird auf Seite 212 des Buches verständlich:

"Fehlwahrnehmungen, machtgestütztes Vorgehen der Russen und Widerstand der Georgier führten zu Entfremdung. Doch die russische Dichtung löste sich nie von ihrem Traumland Georgien. Um eine einseitige Sicht der Dinge zu vermeiden, galt es, die unter russischer Herrschaft erzielten zivilisatorischen Fortschritte im Kaukasus zu berücksichtigen. Die russische Verwaltung beendete Jahrzehnte barbarischer Einfälle und islamischer Fremdherrschaft.705 Die drohende Vertilgung des georgischen Volkes wurde abgewendet. Schließlich brachte die russische Expansion in Transkaukausien eine "Sammlung der georgischen Erde" zuwege, die Verwirklichung des georgischen Traumes seit der Mongolenzeit.706 Georgien verdankte seine Konsolidierung als einheitlicher politischer Raum gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Machtentfaltung des petrinischen Imperiums. Durch wirtschaftlich-technische und administrative Integration schuf Russland überhaupt erst die Voraussetzungen für die Herausbildung georgischer Staatlichkeit. Die unter imperialer Ägide entstandenen Institutionen bildeten die Vorformen des georgischen Staates. Die Leistungen Russlands in Georgien wurden überwiegend anerkannt. Auch die Vereinigung Georgiens durch russische Annexionen wurde als politischer Gewinn erkannt. Erst unter dem Szepter des Zaren war das alte Georgien fast wiedervereint." 

Ebenfalls interessant:

"Zu den Besonderheiten der russisch-georgischen Geschichte gehört, dass die Loyalität gegenüber dem Zarenreich seitens nationalbewegter Georgier trotz aller erfahrenen Härten über lange Zeit nicht in Frage gestellt wurde. Im Jahre 1880 – vor dem Regierungsantritt Alexanders III. – schrieb der Journalist Sergi Mesxi in der Zeitschrift Droeba, dem Sprachrohr der Nationalbewegung: "Wir haben uns guten Willens Rußland anvertraut, dem wir grenzenlos ergeben sind." Er fügte jedoch warnend hinzu, der Schulinspektor Janovskïj "versündigt sich gegenüber Rußland, weil er versucht, ihm die Liebe und Ergebenheit des georgischen Volkes zu rauben"." Anscheinend hat sich Sprache, Kirche und Kultur Georgiens unter der Sowjetherrschaft sogar zeitweise günstiger entfalten können als unter der Herrschaft des Zaren: "Die unterschwellig gleichwohl stets herbeigesehnte nationale Unabhängigkeit fiel den Georgiern in den Revolutionsjahren 1917/18, genauer: im Gefolge von Brest-Litowsk, eher zufällig zu. Mit dem durch die deutsche Niederlage besiegelten Umschwung der Machtverhältnisse sah sich das unabhängige Georgien in einer teils bekannten, teils neuartigen Zwangslage: im Süden die Jungtürken, im Norden die Bolschewiken. Der Verlust der Unabhängigkeit war indes nicht das Werk Lenins, sondern jener georgischen Bolschewiken, die ihr Heimatland in das neue, vermeintlich völkerverbindende Sowjetreich heimholen wollten. Zur Ironie der russisch-georgischen Geschichte gehört die Tatsache, dass sich Sprache, Kirche und Kultur Georgiens unter der Sowjetherrschaft zeitweise ungestörter entfalten konnten als unter den Zaren. Zu Recht verweist Reisner darauf, dass sich die Dialektik von russischem Machtausbau und georgischer Selbstbehauptung in vollem Umfang sogar erst in Zeiten der Sowjetherrschaft entfaltete, als der Ausbau georgischer nationaler Institutionen – zu nennen sind hier nicht nur Schulen, Universitäten, Akademien, sondern auch die kommunistische Staatspartei Georgiens, der Staatsapparat und der Geheimdienst – voranschritt. Anders als Rosa Luxemburg erkannte Lenin der Nation durchaus eine fortschrittliche Funktion zu." 

Was man auch berücksichtigen sollte:

"Die Loyalität der Georgier gilt der Kirche, nicht ihrem Staat. Diese geringe Staatsbindung verleiht den Regierungswechseln seit dem Ende der Sowjetherrschaft revolutionären bis bürgerkriegsartigen Charakter, verbunden mit jeweils komplettem Austausch der Staatsdienerschaft. Politik gerät in Georgien in die Nähe einer permanenten stásis – ein Moment, das von den Georgiern selbst leider kaum reflektiert wird. Weit bequemer ist es, die schwache Staatlichkeit auswärtigen Mächten wie Russland anzulasten." 

Noch immer wird in Georgien Stalin hochverehrt; während auf der anderen Seite Antikommunismus existiert. Beides werde jedoch nicht als Widerspruch empfunden.

Am schwierigen Verhältnis zwischen Russland und Georgien – lesen wir aus dem Text von Ammon heraus dürften beide Staaten wechselseitig nicht frei von Schuld sein:

"In diesem Zusammenhang spielt aber auch das von Dostoevskïj und Vasilïj Rozanov722 beklagte Desinteresse der Russen an der Historie, nicht zuletzt an Geschichte und Selbstverständnis der imperial angeeigneten Völker, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Umgekehrt leidet auch die georgische Historiographie nicht an übertriebener Selbstkritik. Beide Dispositionen sind einer vernünftigen Politik nicht förderlich. Selbst da, wo mit großem Aufwand Versuche einer Verständigung unternommen werden, zeichnet sich keine Wende zum Positiven ab." 

Georgien ist nicht zuletzt so etwas wie ein Spielball – meint Philipp Ammon – in einer Neuauflage des "Great Game" zwischen den USA und Russland im Nahen Osten. Nichts so ganz eues: Habe doch Georgien seinerzeit Peter dem Großen als Aufmarschgebiet gegen Persien gedient. Und in der Gegenwart werde das Land nun von den USA und Israel in eine vergleichbare Rolle als strategische Basis gegen Iran manövriert. Ob Georgien gut beraten war (freilich in der verständlichen Absicht sich von russischem Einfluss fernzuhalten) sich die USA als neue Schutzmacht quasi an den Hals zu schmeißen, nachdem es wohl nicht an entsprechenden Winken aus Washington gefehlt haben dürfte, darf m.E. stark bezweifelt werden.

Der Vorhang zu und alles Fragen offen, könnte man nach der Lektüre betreffs des Verhältnisses zwischen Russland und Georgien sagen. Denn von positiven Aussichten betreffs einer möglichen Verbesserung des Verhältnisses beider Länder kann das Buch freilich keine Kunde geben.

Um aber zu verstehen, um nachzuvollziehen warum die Situation so ist wie sie heute ist, war es sehr lehrreich, dieses Buch von Philipp Ammon zu lesen. Man kann es durchaus als veritables Geschichtsbuch mit einer Fülle von genau beschriebenen Hintergründen bezeichnen. Ammon hat für das Buch unglaublich tief gelotet und viel Wissenswertes an den Tag befördert. Eine unglaubliche Fleißarbeit, die nicht hoch genug geschätzt werden kann, leistete der Autor augenscheinlich, die jedoch nötig war, um möglichst alle erreichbaren Quellen (akribisch aufgeführt) zu studieren, um diese Arbeit zu leisten. Einfach so und sozusagen in einem Rutsch ist das Buch – mit den vielen Hinweisen und Quellenangaben – logischerweise nicht zu lesen. Aber es ist für diejenigen, welche sich für dieses ansonsten meines Wissens wenig beackerte Thema interessieren dann doch unverzichtbar. Das Buch dürfte darüber hinaus aber auch für einen breiteren Leserkreis von Interesse sein. Die Zeit zur Lektüre dieses Buches wird man sich dann gewiss gerne nehmen. Und in der Corona-Krise hat sicher manche/r womöglich auch die Muße sich dem Buch in Ruhe zu widmen.

Das Buch

Philipp Ammon: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924
Neuauflage Neuauflage der ersten Ausgabe von 2015 mit einem Nachwort von Uwe Halbach
2020. 238 Seiten. Kt 29,80 €
Format 14 x 21,5 cm
ISBN 978-3-465-04407-9
Klostermann Rote Reihe 117

Thursday, March 05, 2020

GASTKOMMENTAR: Georgiens Sehnsucht nach dem mächtigen Freund. Von Philipp Ammon (2017) via @NZZ

[nzz.chNeben Armenien ist Georgien das einzige christliche Land im Kaukasus und steht entsprechend isoliert da. Die Zeiten, da man sich Russland als Schutzmacht auserkor, sind vorbei. Doch was folgt danach?


Am 18. März 2014 hielt Präsident Putin im Georg-Saal des Kreml eine Rede an die russische Nation, in der er die Krim als «so heilig wie den Tempelberg» bezeichnete. Kurz darauf erklärte er, dass er in der Ukraine auch jenen Teil der Bevölkerung zu verteidigen gedenke, welcher sich der «weiten russischen Welt» zugehörig fühle. Unter dieser ist nicht allein die Landmasse der Russischen Föderation zu verstehen, sondern der gesamte Raum, den Russland je kulturell geprägt hat. Darin eingeschlossen sind auch jene Länder, in denen die UdSSR russische Minderheiten hinterlassen hat.

Während es in der Anglosphäre ein real existierendes Gefühl von Zusammengehörigkeit gibt, verleiht Putin mit der Idee der russischen Welt jenem imperialen Phantomschmerz Ausdruck, den er 2005 in die Worte fasste, der Zerfall der Sowjetunion stelle «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» dar. Seine Präsidentschaft ist der Versuch, die seit 1991 erlittenen Verluste zu revidieren bzw. den weiteren Zerfall der russischen Landmacht zu beenden. Von Anbeginn richtete er sein Augenmerk auf den Kaukasus, zunächst auf Tschetschenien, dann auf Georgien, welches ihm im August 2008 durch das kurzschlüssige Handeln seines Präsidenten Saakaschwili einen glücklichen Vorwand zum russischen Teileinmarsch lieferte.

Russland und der Kaukasus
Den russischen Anspruch auf den Kaukasus verdeutlicht eine Episode, die sich kurz nach dem Untergang der Sowjetunion in einer Dahlemer Villa zutrug. Der letzte Oberkommandierende der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte Matwei Burlakow und der letzte in Bonn residierende sowjetische Botschafter Juli Kwizinski beklagten gegenüber dem Verleger Wolf-Jobst Siedler den Verlust des Kaukasus, insbesondere Georgiens. Dagegen äusserten sie ihr gänzliches Unverständnis darüber, wie klaglos die Deutschen 1990 ihre Ostgebiete preisgegeben hätten. Die 2014 verstorbene Sowjetdissidentin Walerija Nowodworskaja bezeugte vor ihrem Ableben, dass die «überwältigende Mehrheit» der russischen Menschenrechtler in der Ära des Jelzinschen Liberalismus den Verlust des Kaukasus nicht hinzunehmen bereit war. Bereits der russische Literaturkritiker Wissarion Belinski (1811–1848) prägte das Bonmot: «Der russische Demokrat endet bei der Nationalitätenfrage.»

Der bis heute bestehende russisch-georgische Konflikt wurzelt in historischen Tiefenschichten. Georgische Einflüsse auf die Slawia lassen sich bereits am glagolitischen Alphabet der Slawenapostel Kyrill und Method aus dem 9. Jahrhundert ablesen. Bereits in der «Belehrung» des Kiewer Grossfürsten Wladimir Monomach (1053–1125) ist vom ersehnten Garten «wyrij sad» – eine Verballhornung des kirchlichen Namens Iberien für Georgien – die Rede, aus dem «die himmlischen Vögel kommen». Ein Widerhall dieser altrussischen Paradies-Sehnsucht findet sich in John Steinbecks «Russischem Tagebuch» von 1948, als dieser Stalins atheistische Sowjetunion bereiste: «Wir begannen tatsächlich zu glauben, dass die meisten Russen hofften, wenn sie ein sehr redliches und tugendhaftes Leben führten, nicht in den Himmel, sondern nach Georgien zu gelangen, wenn sie sterben.»

Nach dem Fall Konstantinopels ersuchten georgische Könige erstmals 1483 das «weisse Russland des grossen Nordens» um Schutz, dem nach der geschichtstheologischen Überhöhung zum «Dritten Rom» die Rolle zufiel, das Böse der Welt in Schach zu halten und die Schutzherrschaft über die orthodoxe Christenheit wahrzunehmen. Seither beginnt für die Georgier «die Sonne im Norden aufzugehen», wie es der Dichter Mamuka Barataschwili im 18. Jahrhundert formulierte. Gänzlich entging den Georgiern die Säkularisierung Russlands seit Peter dem Grossen, als an die Stelle der Heiligen Rus die Grosse Rus trat, die sich nicht mehr von eschatologischem Sendungsbewusstsein und religiöser Affinität, sondern von der Staatsräson leiten liess. Dieses tragische Missverständnis liegt der bis heute währenden Entfremdung zugrunde.

Den Ausgangspunkt des Konflikts bildet der 1783 abgeschlossene Vertrag von Georgiewsk, in dem sich Ostgeorgien unter Erekle II. in der Hoffnung auf einen Schutzschirm gegen die muslimischen Anrainer dem russischen Protektorat unterstellte. In der Enttäuschung dieser Hoffnungen kam es zu einer bürokratischen Homogenisierung durch das russische Imperium. Die Beseitigung der kirchlichen Autokephalie Georgiens vollzog sich sodann im Rahmen der allgemeinen Aufhebung georgischer Selbständigkeit.

Von Beginn weg sahen sich die Georgier vom Verhalten Russlands überrascht. Wie im Mittelalter gegenüber Byzanz hatten sie eine Anlehnung oder eine elastische, «verstreute Herrschaft» wie unter den Persern erwartet. Ein erstes Trauma war für sie der «Verrat» von 1795, die ausbleibende russische militärische Hilfe gegen den Kadscharenkhan Agha Mohammed, der nach der Schlacht von Krzanissi Ostgeorgien völlig verwüstete.

Die Zurückhaltung der zugesicherten russischen Truppen wird in Georgien mit dem Warschauer Aufstand von 1944 parallelisiert. Dabei wird georgischerseits gern übersehen, dass die gescheiterte neuzeitliche Zusammenziehung der eigenen Kräfte das Land erst dem Wohlwollen auswärtiger Mächte auslieferte. Bis heute gelang es den Georgiern kaum je, Partikularinteressen dem nationalen Gesamtinteresse hintanzustellen. In der erwähnten Schlacht von Krzanissi leistete nur einer seiner zahlreichen Söhne König Erekle Heerfolge. Für diese georgische Attitüde prägte der englische Historiker W. E. D. Allen den Begriff der ästhetischen Verantwortungslosigkeit.

Das mit dem Untergang der Sowjetunion 1991 sich öffnende Fenster der Möglichkeiten wurde in Georgien anders als im Baltikum nicht besonnen genutzt. Das Land stürzte in einen Bürgerkrieg. Der geringe nationale Zusammenhalt offenbarte sich auf bestürzende Weise, als 1993 Georgier ihre aus Abchasien flüchtenden eigenen Landsleute ausraubten. Den Mangel an inneren Bindungskräften suchten die Georgier durch äussere Bündnisse wettzumachen. Was in der feudal-mittelalterlichen Welt funktionierte, musste in der Epoche der Flächenherrschaftsstaaten scheitern.

Wende nach Westen
Nach dem Zusammenbruch der staatlichen Institutionen im Gefolge der Auflösung der Sowjetunion und wegen der radikalen Privatisierungspolitik im Rahmen der Rosenrevolution von 2003 sahen sich viele Georgier gezwungen, ihr Heil im Ausland zu suchen. Wer zu Hause blieb, verdingte sich gern bei westlichen Firmen, NGO oder Think-Tanks. Der Stalin-Biograf Donald Rayfield wies darauf hin, dass die Georgier heute nicht nur in der Londoner Finanzwirtschaft aussergewöhnlich zahlreich vertreten seien, sondern dass sie auch in der Koalition der Willigen in Afghanistan das proportional grösste Kontingent stellten. Solches erinnert an den Status quo ante Georgiewsk, als georgische Truppen im 18. Jahrhundert das Gros der iranischen Garnisonen bis an den Hindukusch ausmachten.

In nüchterner Voraussicht warnte Rayfield ein Jahr vor dem russisch-georgischen Krieg die Georgier vor überspannten Hoffnungen auf auswärtige Schutzmächte. So wie sich einst das Vertrauen auf das grosse christliche Zarenreich als illusionär erwiesen habe, würde sich der Westen im Falle eines russischen Einfalls auf Uno-Resolutionen beschränken.

Im Versuch, das russische Publikum für eine georgische Wiedervereinigung mit dem abgespalteten Abchasien zu gewinnen, sprach der georgische Geschäftsmann Lewan Wasadse 2017 vor der Adelsversammlung in Moskau vom Warten als dem Nomos der Georgier: In gastlicher Erwartung eines göttlichen Gesandten lebten sie von Anbeginn geduldig auf dessen Empfang. Doch weder Russland noch der Westen erfüllten diesen georgischen Traum von der Wiederherstellung des goldenen Zeitalters. Und so gilt denn: Eine georgische Unabhängigkeit bedarf unabhängiger Georgier.

Der Historiker Philipp Ammon lebt in Berlin und Tbilissi. 2015 erschien im Kitab-Verlag «Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation: Die Wurzeln des russisch-georgischen Konflikts vom 18. Jahrhundert bis zum Ende der ersten georgischen Republik».

Rezension von Christian WipperfürthPhilipp Ammon: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation.

Mehr von Philipp Ammon: independent.academia.edu/PhilippAmmon

Wednesday, November 13, 2019

ART: Suspended. Georgien/Russland. Begegnung auf einem anderen Terrain. (2009)

Suspended brings together works by Georgian and Russian artists in one catalog, demonstrating the solidarity prevailing between the shapers of culture in the two countries in times of political conflict. The artists from Georgia and Russia – among them Tamara K.E., Keti Kapanadze, Gia Edzgveradze, Yuri Albert, Vadim Zakharov, Ivan Chuikov – are not only well known in the contemporary art scene of their home countries, but are also represented at international exhibitions such as the Venice Biennale and the Documenta in Kassel as well as in the collections of major museums. The project's title Suspended refers to the free-flowing, sometimes difficult-to-define space in which artists position themselves and in the context of which their works are interpreted.

Hardcover, 19 x 23 cm, 120 pages, 160 color illustrations, English, German, Available
ISBN 978-3-86828-079-1, 2009

Texts: Keti Chukhrov, Gia Edzgveradze, Boris Groys, Zaza Shatirishvili

Source: kehrerverlag.com

Thursday, July 12, 2018

VORTRAG: Hundert Jahre Aufnahme deutsch-georgischer diplomatischer Beziehungen. Zwei Vorträge zum Zentennium von Philipp Ammon. via @TabulaRasaJena

Philipp Ammon
(tabularasamagazin.de) Am 9. Juni stellte Dr. Dieter Boden, ehemaliger Leiter der OSZE-Mission und UNOMIG in Georgien, im Potsdamer Lepsiushaus sein im Ch. Links Verlag erschienenes Buch über Georgien vor: weder ein Memoirenbuch noch ein Reiseführer – ein Länderporträt, das sich aus langjähriger Erfahrung und Begegnungen mit Kunst, Natur und Persönlichkeiten des Landes speist.

Spätestens seit dem am 7./8. August 2008 einsetzenden Olympiakrieg, als Präsident Saakaschwili den Rat von Condoleeza Rice vom 10. Juli mißachtete, "die Finger von der Kanone" zu lassen und die im Tagliavinibericht der EU etwas dezenter umschriebene "grenzenlose Dummheit" beging, die russische Garnison in Zchinwali zu beschießen und den Russen so, wie erhofft, ins Messer lief, sei Georgien den meisten ein Begriff. Nach der Rosenrevolution 2003 hatte der Mittdreißiger das Land euphorisiert, indem er die kleine Korruption bekämpfte und auf einen Schlag 18000 Milizionäre entließ. Doch er lieferte nicht, wozu jeder Politiker verpflichtet sei: Stabilität. Seit 2012 regiert nun der Georgische Traum des Oligarchen Iwanischwili, der in Rußland ein Milliardenvermögen erwarb. Seit dieser im November 2013 als Premier zurücktritt, bekleidet der Landesherrscher kein Regierungsamt mehr, doch sei seit seiner Übernahme des Vorsitzes des Georgischen Traums im Mai eine Rückkehr ins Amt nicht ausgeschlossen. Der bis zum 13. Juni amtierende Premierminister Kwirikaschwili diente zuvor als Direktor von Iwanischwilis Kartubank, aus der sich auch andere Regierungsmitglieder rekrutieren. Der populärste Mann Georgiens sei heute Patriarch Elias II., der in der Bevölkerung eine Zustimmungsrate von 90% genieße. Als Saakaschwili in seiner späten Amtszeit zum Neujahrstag nicht mehr in der Sameba-Kathedrale erschien, wozu er protokollarisch verpflichtet gewesen wäre, und seinen Präsidentenpalast in die Sichtachse des Patriarchen auf die Kathedrale baute – gegenüber Boden nannte der Patriarch dies eine "naglost" (Unverschämtheit) – bereitete dies nicht unwesentlich sein politisches Ende vor. Art. 9 der Verfassung betont die tragende Rolle der Kirche für das Land, welche neben der Sprache stets Träger der Identität gewesen ist. Auf Initiative Elias II. begehen die Georgier den 17. Mai als Tag der Reinheit der Familie. Während des Augustkrieges hielt der auch in Rußland hochgeschätzte Patriarch die Tür für Gespräche offen. Obwohl Georgien und Rußland heute keine diplomatische Verbindungen unterhalten, sei die religiöse Verbindung stark.

Die Stabilität Georgiens hänge nicht zuletzt von der Stabilität der kaukasisch-nahöstlichen Region ab, welche auch angesichts des Trends der internationalen Politik, Konflikte einzufrieren, statt sie ausgleichend zu lösen, prekär bleibe. Um ein kriegerisches Wiederaufflammen von Konflikten zu vermeiden, versuche man heute, an diesen möglichst nicht zu rühren und betrachte Friedensverträge nicht mehr als primäres Ziel. Man versuche vielmehr, Konflikte durch wirtschaftliche Beziehungsnetze entschärfend einzubetten. Mit einer Million russischer Touristen, die Georgien jährlich besuchen, verbänden die Georgier die Hoffnung, daß der Konflikt von 2008 nicht wieder ausbreche. Die Verhandlungsbemühungen um die Sezessionsgebiete des Landes seien zwar gegenwärtig nicht sehr aussichtsvoll, doch anders als an der armenisch-aserbaidschanischen Demarkationslinie des Waffenstillstandes, wo monatlich auf beiden Seiten etwa zehn Tote zu beklagen sind, ruhen in Georgien die Waffen. Trotz der Besatzung großer Landesteile bestünden im georgischen Volk jedoch keine Ressentiments gegen Russen, man trenne scharf zwischen Kultur und Politik, und es sei ein Elend, daß die selbstverständliche Kenntnis des Russischen nicht mehr als Geschenk wahrgenommen werde. 2010 erklärte ein Erlaß Saakaschwilis das Englische an allen Schulen zur ersten Fremdsprache, das Russische zur Fakultativsprache. Dies beschneide die Möglichkeit der Verständigung nicht nur mit den nördlichen Nachbarn, sondern auch mit den kaukasischen Nachbarvölkern in der russica lingua franca caucasica, in der sich die von der Hauptstadt ernannten Gouverneure des südgeorgischen Samzche-Dschawachetien mit der Viertelmillion Armenier, welche die Russen im 19. Jh. an der dschawachischen Militärgrenze ansiedelten, bis heute noch verständigen können.

Daß die Armenier in Abchasien nicht nach Tbilissi orientiert seien und der russische Außenminister Lawrow mütterlicherseits Armenier sei, dürfe für die georgisch-armenischen Beziehungen nicht unterschätzt werden. Seit die Eisenbahnverbindung von Erewan nach Sotscha im Sezessionsbürgerkrieg von 1993 unterbrochen wurde, sei Armenien auf georgische Unterstützung angewiesen. Die Verbindung sei zwar nicht herzlich, doch partnerschaftlich.

Angesichts seiner militärischen Ohnmacht wirke Georgien heute durch die von Joseph Nye als soft power bezeichnete kulturelle Ausstrahlung, durch Renommée gleich Frankreich oder Italien. Die Geigerin Batiaschwili und die Pianistin Buniatischwili bespielten weltweit Konzertsäle, in denen die Kompositionen Kantschelis ebenso wie die atemberaubenden georgischen polyphonen Gesänge erklängen, die die Unesco zum Weltkulturerbe erklärte. Solche Strahlkraft übte Georgien schon zu russischen Zeiten aus, als Sowjetmenschen auf ein georgisches Jenseits hofften und Tifliser KP-Chefs versuchten, das für sowjetische Verhältnisse großen Freiraum genießende Land durch die Geschichte zu manövrieren. Als 1978 ein Moskauer Kritiker das georgische Kino als unsowjetisch verriß, sorgte Schewardnadse, seit 1965 Innenminister und 1972 Parteichef Georgiens, für dessen Entlassung. Auch widersetzte er sich der Abschaffung des Georgischen als konstitutionelle Landessprache. Durch Gespräche mit dem Politbüro erreichte er die Erlaubnis, in Georgien den die Glasnost einleitenden Film Monanieba (Reue) zeigen zu dürfen, der auf einer deutschen Montagsdemonstration im Oktober 1989 die Forderung "Reue zeigen" inspirierte. Außerhalb Georgiens befinde sich die größte Sammlung georgischer Filme im Arsenal zu Berlin.

1981 feierten die Georgier den europäischen Fußballpokalsieg Dynamo Tbilissis über CS Jena als nationalen Triumph und verfrühte Bekundung des Unabhängigkeitswunsches. Bekannter als Dynamo ist heute der von Inter Mailand für 16 Mio. € erworbene Kacha Kalandadse, dem seine Vertrautheit mit Iwanischwili einen Wechsel vom Fußball in die Politik erlaubte, zunächst als Energie- und Vizepremierminister, heute als Bürgermeister der Hauptstadt, die unlängst traurige Bekanntschaft erlangte. Als in der vorausgegangenen Woche in einem Club fünf Gäste an einer Überdosis den Drogentod starben, kam es am 15. Mai zu einer Razzia. East meets West in techno beats.

David der Erbauer
Die Schnittstelle Europas und Asiens bestimme seit jeher die georgische Geschichte, welche sich seit der Annahme des Christentums 327 als Martyrium gestalte. Die Georgier träumten von ihrer Glanzzeit, welche in der Erinnerung als Goldenes Zeitalter lebt, das König David der Erbauer (1089-1125) 1121 eröffnete, indem er als Schwert des Messias einen wundersamen Sieg über eine fünffache Seldschukenübermacht errang und Land und Hauptstadt befreite. Seine Urenkelin Königin Thamar die Große (1184-1213) schaffte die Todesstrafe ab und führte Berufungsgerichte ein. Im sie preisenden Recken im Tigerfell erlangte die europäische Literatur ihren damaligen Höhepunkt, Wissenschaft und Gelehrsamkeit erblühten in beiden Akademien und fünfzig Landesklöstern. Als sich die Königin vom ausschweifenden Intriganten Juri Bogoljubski geschieden hatte, warb 1188 Barbarossa für seinen Sohn Friedrich von Schwaben erfolgos um ihre Hand und eine Verbindung zum Heiligen Römischen Reich. Das Goldene Zeitalter beendeten die Mongolen. 1126 färbte das Blut von 100 000 Georgiern die Tifliser Mtkwari rot, als sie sich dem Befehl des Choresmierschahs Dschalal ad-Din verweigerten, auf der Flußbrücke aufgestellte Ikonen zu bespeien.

Durch den Fall Ostroms 1453 vom Westen abgeschnitten, belieferte das Land nun den Orient mit Kriegssklaven und Odalisken. Nachdem Petersburg 1795 beim Einfall Agha Mohammad Khans die im Schutzvertrag von Georgiewsk 1783 zugesicherte Militärhilfe verweigert hatte, zählte das Land zum Zeitpunkt der russischen Annexion 1801 nur noch eine halbe Million Einwohner. Von nun an sollte der georgische Leib der russischen Seele dienen, wie man den General Katharinas der Großen Totleben instruiert hatte. Zu diesem Zweck wurde 1811 die Georgische der Russischen Kirche eingegliedert und 1871 das Georgische an den Schulen abgeschafft. Seit dem 19. Jh. prägte der deutsche Idealismus Generationen von Georgiern, so auch die Väter der 1918 unter deutschem Schirm begründeten, auf die Humboldtsche Idee verpflichteten Universität Tbilissi.

Lawrenti Beria 
Der sowjetischen Anerkennung des unabhängigen Georgiens im Januar 1920 folgte im Februar 1921 der Einmarsch der Roten Armee. Als Kremlchef führte Joseph Dschugaschwili-Stalin zwar die imperiale Politik der Zaren fort und griff vergeblich nach den Dardanellen, doch fand er nach Auskunft seiner Tochter Swjetlana Allilujewa dabei Zeit, die Werke russischer Historiker über seine Heimat zu korrigieren. Seine georgische Herkunft hinderte auch den in Abchasien geborenen Geheimdienstchef Beria nicht daran, im Zuge der Säuberungen von 1937 Zigtausende Georgier zu liquidieren. Im Zweiten Weltkrieg zahlten seine Landsleute mit 350 000 Toten den anteilmäßig höchsten Blutzoll aller Sowjetrepubliken. Der georgischen Erinnerung an Stalin sei Selbstgerechtigkeit nicht fremd. Zwar wolle man mit seiner Hilfe kein Reich restaurieren, doch betrachte man ihn als einen in schlechte Gesellschaft geratenen verlorenen Sohn des Landes, der einen Weltkrieg gewonnen habe.

1991-92 spaltete der von Rudolf Steiner bewegte sprunghafte erste Präsident Georgiens Swiad Gamsachurdia sein Land. Der gerade erschienene Film Vor dem Frühling zeigt seine Flucht in die Berge. Die im damaligen Bürgerkrieg verlorenen Sezessionsgebiete konnten bis heute nicht reintegriert werden. Mittlerweile habe sich das Land, welches das Leben des Vortragenden "bereichert hat", zwar stabilisiert. Doch bange er um die Kulinarik, welcher ein EU-Beitritt schaden könne. Von der legendären georgischen Gastfreundschaft behaupteten böse Zungen, sie diene dem Zweck, Feinde durch Völlerei außer Gefecht zu setzen. Die Tafel der Georgier sei aber ein Gesamtkunstwerk, bei der auch der Fremde vor Trunkenheit nicht die Selbstbeherrschung verlieren sollte. Dieter Boden habe dieses "Fest des Lebens" stets "seelisch und metaphysisch inspiriert".

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Einen Vortrag über die deutsch-georgischen Beziehungen während des Ersten Weltkrieges hielt am 17. Mai im Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung der an der Tschawtschawadse-Universiät lehrende Leiter des Georgischen Literaturmuseums Lascha Bakradse, der in Zusammenarbeit mit Memorial das der Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit verpflichtete SovLab mitbegründete. Seine Forschung, welche die Deutsche Botschaft in Tbilissi zum deutsch-georgischen Jahr 2017/18 ins Deutsche zu übersetzen beabsichtigt, beschäftigt sich mit dem Georgischen Nationalkomitee, das von der Schweiz über das Genfer Konsulat und die Berner Botschaft zu Beginn des Weltkrieges Tuchfühlung mit Berlin aufnahm, um bei einem Sieg der Mittelmächte Unterstützung georgischer Unabhängigkeit zu finden. Anders als die Finnen, die vor 1917 nur die Ende des 19. Jhs. aufgehobene verfassungsmäßige innere Selbständigkeit wiederherzustellen trachteten – die Zar Alexander I. 1809 anerkannte, als ihm der georgischstämmige General Bagration durch eine handstreichartige Überquerung des zugefrorenen Finnischen Meerbusens das Großfürstentum gewonnen hatte – visierten die Genfer Exilgeorgier bereits seit 1913 mit ihrer Zeitschrift Thawisuphali Sakarthwelo (Freies Georgien) ein unabhängiges Land an. Die Neutralität der Eidgenossenschaft und Belgiens boten ihrer Arbeit die besten Voraussetzungen. Die Exilanten nahmen in der Schweiz während des Krieges auch an gegen die Mittelmächte gerichteten Konferenzen teil, welche auf nationale Unabhängigkeit ihrer Völker hoffende Parteigänger der Entente ausrichteten.

An Berlin richteten die Georgier ein Memorandum zur Neutralisierung des Kaukasus, in welchem sie einen Plan eines Bundesstaates vorlegten: ein an das Deutsche Reich angelehntes georgisches Königreich mit einem Monarchen aus europäischem Fürstengeschlecht im Verbund mit armenisch-tatarischen Kantonen im Osten und einer Föderation der Bergvölker im Norden. Der Plan des Fürsten Matschabeli, Aufstände im Kaukasus zu organisieren, entsprach zwar durchaus dem deutschen Wunsch, die Ententemächte durch Fremdvölker zu schwächen. Doch dachte man in Berlin dabei vor allem an einen Dschihad der Muslime. Der Weltkriegsausbruch traf Berlin unvorbereitet. Weder für den Kaukasus noch für andere Weltgegenden waren strategische Planungen ausgearbeitet worden. Selbst die Begründung der Kriegsrohstoffabteilung erfolgte erst auf Initiative Rathenaus am 13. August. Die Vorstellungen von einer gänzlichen globalen Wirtschaftsverflechtung, welche zum Gedeihen aller Länder ihre Gegensätze weltfriedlich entschärfe und Kriege zwangsläufig technisch verunmögliche, wie sie der englische Publizist Norman Angell im vorletzten Jahr der Belle Époque der deutschen Studentenschaft in einem offenen Brief darlegte, entsprachen zumindest den praktischen Vorkehrungen Berlins.

Graf von der Schulenburg
Erst nach dem Kriegseintritt der Pforte sammelten sich im Osmanischen Reich ukrainische u.a. gegen Petersburg und die Entente gerichtete Gruppen. In Anatolien bildeten deutsche Militärs eine Georgische Legion aus, in die autochthone Lasen und Tschweneburebi ("Unsrige"), deren Siedlungsgebiete im osmanischen Herrschaftsbereich lagen, aufgenommen wurden, wofür die Exilanten dem späteren Verschwörer von 1944 Graf von der Schulenburg den Orden der Hl. Thamar verliehen. 1915 brachten deutsche U-Boote Exilgeorgier von Stambul an die kolchische Schwarzmeerküste, darunter den Sumerologen Micheil Zereteli, der Absprachen mit den georgischen Sozialdemokraten traf.


Die Petrograder Februar- und Oktoberrevolutionen beschleunigten die Ereignisse. Sie lösten die georgischen Militärs von ihrem Eid auf den Zaren und führten zum Zusammenbruch der russischen Frontstellungen. Das Deutsche Reich löste sein 1915 geleistetes Versprechen einer Unterstützung georgischer Unabhängigkeit Ende 1917 in einer Garantieerklärung an Georgien ein, welche 1918 in militärischer und diplomatischer Unterstützung des Landes mündete. Im März 1917 bildete sich in Tiflis aus Mitgliedern der Vierten Duma ein Transkaukasisches Sonderkomitee der Petrograder Provisorischen Regierung, das im November durch ein Transkaukasisches Kommissariat ersetzt wurde.
General Kreß von Kressensteins
Dieses untergrub den völkerrechtlichen Status Transkaukasiens gravierend, als es der Einladung Vehib Paschas vom 14. Februar 1918, eine Delegation zu den Verhandlungen von Brest-Litowsk zu entsenden, nicht rechtzeitig nachkam. Stattdessen folgte das Kommissariat der türkischen Einladung zu separaten Friedensverhandlungen nach Trapezunt, welche die meisten kaukasischen Deligierten am 22. März unter Ablehnung der türkischen Bedingung, den Vertrag von Brest-Litowsk anzuerkennen, verließen. Als die Kaukasier das Ultimatum Rauf Beys vom 6. April, den Vertrag binnen 48 Stunden anzuerkennen, verstreichen ließen, überschritten die Türken die einstigen Staatsgrenzen von 1914 und besetzten Batumi.


Der am 10./23. Februar einberufene Transkaukasische Sejm erklärte nun am 22. April die Unabhängigkeit der Transkaukasischen Föderation, welche auf der Basis von Brest-Litowsk um neue Verhandlungen mit der Türkei bat, die am 11./24. Mai in Batumi wiederaufgenommen wurden. Der aserbaidschanische Teil der Delegation erwies sich dabei als vollkommen protürkisch. Am 12. Mai schrieb der Delegationsvorsitzende Akaki Tschenkeli nach Tiflis, Georgien solle seine Unabhängigkeit erklären, um die eigenen Interesssen mit deutscher Unterstützung besser vertreten zu können. Die Georgier erklärten darauf am 26. im Palais des russischen Statthalters die Unabhängigkeit, worauf Aserbaidschaner und Armenier zwei Tage später jeweilige Erklärungen folgen ließen. Das Deutsche Reich erkannte den Staat unverzüglich an. Der bereits vor dem Krieg als Konsul in Tiflis wirkende von der Schulenburg wurde zum deutschen Botschafter ernannt und General von Lossows diplomatische Dienste erwirkten ein Zusatzabkommen zu Brest-Litowsk, in welchem Rußland die deutsche Anerkennung der georgischen Souveränität akzeptierte. Das im Juni 1918 eingetroffene bayerische Jägerbataillon schlug unter Befehl General Kreß von Kressensteins im Verein mit noch schwachen georgischen Kräften die von türkischen Offizieren befehligten Freischärler, die ungeachtet des am 4. Juni in Batumi unterzeichneten Friedensvertrages vorrückten, in Südgeorgien zurück.

Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 beendete dieses Kapitel. In Tbilissi zogen die Engländer ein. Churchill lehnte eine georgische Unabhängigkeit jedoch aus strategischen und finanziellen Gründen ab. Als sich die Engländer 1920 in Batumi einschifften und der Union Jack eingeholt wurde, empfand der Nationaldemokrat Rewas Gabaschwili beim Hissen der georgischen Flagge einerseits Freude. Andererseits wußte er, daß er sich nicht lange an ihrem Anblick erfreuen werde. Bald würden die Russen einrücken. Ähnlich zwiespältig empfinde Lascha Bakradse die deutsch-georgischen Hundertjahrfeiern: Die Anteilnahme der Deutschen an der Geschichte seines Landes nehme ab, auf die Übersetzung seines Werkes warte er bis jetzt vergeblich. Eine Erfahrung, die er mit dem Verfasser des Artikels teilt.

Dieter Boden, Georgien: Ein Länderporträt, Ch. Links Verlag 2018.

Lascha Bakradse, Deutsch-Georgische Beziehungen während des Ersten Weltkrieges, Pegasi 2010

Der Historiker Philipp Ammon lebt in Berlin und Tbilissi. 2015 erschien im Kitab-Verlag «Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation: Die Wurzeln des russisch-georgischen Konflikts vom 18. Jahrhundert bis zum Ende der ersten georgischen Republik».

Wednesday, August 09, 2017

GESCHICHTE: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Von Philipp Ammon (kitab-verlag.com)

(kitab-verlag.com) Wie kam es zu einer Entfremdung zwischen Russland und Georgien, zweier Länder desselben chalkedonisch-orthodoxen Glaubensbekenntnisses, deren kulturelle Verbindungen bis ins Frühmittelalter zurückreichen? Georgische Einflüsse lassen sich bereits am Glagolitischen Alphabet der Slawenapostel (9. Jh.) und der altrussischen Nestorchronik (12. Jh.) ablesen. Ebenso alt ist die russische Sehnsucht nach dem georgischen Paradiesgarten, dem Vyrïj-sad, dem Wohnsitz der Seelen der Verstorbenen, wohin die Vögel alljährlich zum Überwintern ziehen, welcher erstmals in der Belehrung Vladimir Monomachs (vermutlich 1117) Erwähnung findet. “Indeed, we began to believe that most Russians hope that if they live good and virtuos lives, they will not go to heaven, but to Georgia, when they die”, schreibt John Steinbeck 1948 in seinem Russian Journal von seiner Russlandreise mit Robert Capa.

Bei seiner Kirchenreform schwebt dem russischen Patriarchen Nikon (1605-81) die georgische Kirchenverfassung mit ihrem Ehrenvorrang der geistlichen Macht als sakrale Utopie vor. Nach der petrinischen Enthauptung der Kirche übernimmt im 19. Jh. die russische Literatur die Rolle des geistigen Gegengewichts zur weltlichen Macht und säkularisiert das Sehnsuchtsbild des großen Patriarchen zum arkadischen Traum. Pathetisch gesprochen ließe sich die russische Hinwendung zu Georgien ähnlich der deutschen Liebe zu Italien als „Sehnsucht der Mitternacht nach dem Licht“ bezeichnen.

Nach dem Fall Konstantinopels ersuchen georgische Könige erstmals 1483 das „weiße Russland des großen Nordens“ um Schutz, welchem nach der geschichtstheologischen Überhöhung des Pleskauer Mönchs Philotheos zum „Dritten Rom“ (um 1500) die Rolle zufällt, das Böse der Welt in Schach zu halten und die Schutzherrschaft über die orthodoxe Christenheit wahrzunehmen. Als Alexander II. von Kachetien 1586 angesichts der türkischen Bedrohung den Sohn Ivans des Schrecklichen ?ëdor um Schutz für sich und sein Volk bittet, kann dieser die Zusage seines militärischen Beistands zwar nicht einhalten, doch führen er und seine Nachfolger fortan den Titel „Herrscher des Iberischen Landes und der Georgischen Könige“. Für die Georgier beginnt „die Sonne im Norden aufzugehen“, wie es der Dichter Mamuk´a Barat´ašvili (18. Jh.) formuliert. Gänzlich entgeht den Georgiern die Säkularisierung Russlands seit Peter dem Großen. An die Stelle der „Heiligen Rus´“ tritt die „Große Rus´“, welche sich nicht mehr von eschatologischem Sendungsbewusstsein und religiöser Affinität, sondern von strategischen Interessen und ragione di stato leiten lässt. Das Missverständnis bedingt eine Entfremdung und eine Tragödie, die bis heute währt...

Philipp Ammon, Historiker u. Slawist, lebt in Berlin.